„Die Schwache, die weder das Übel zu verhindern, noch das Gute zu fördern weiß, befestigt die Tyrannei“ –, für diese Sentenz ist Diderot kürzlich nur mit knapper Not der Bastille entgangen!
Ich war auch in Saint-Quen bei Herrn Necker, und kehrte enttäuscht zurück. Man muß in seinen Ansprüchen sehr bescheiden geworden sein, um ihn für bedeutend zu halten. Er läßt sich vom Strom der öffentlichen Ereignisse hin und her werfen und ist dabei natürlich außerstande, ihn in die richtigen Bahnen einzudämmen. Eine überraschende Erscheinung ist seine Tochter; sie gleicht ihren Eltern nur in einem Rest nüchternen Genfertums; ihre prachtvollen Augen, ihre schöne Gestalt versöhnen mit ihrer sonstigen Häßlichkeit. Ihre überlegene Klugheit zwingt zur Bewunderung, Trotzdem ist sie mir in tiefster Seele antipathisch. Nicht ohne Mitleid mit den Männern der Zukunft möchte ich sie für einen Typus kommender Frauen halten. Wie glücklich preise ich mich, daß ich die holdseligste Inkarnation des achtzehnten Jahrhunderts noch mein nennen darf!
Ich traf den Grafen Guibert bei ihnen. Die Art seines Verkehrs mit der Familie Necker ließ auf seine Intimität im Hause schließen, was mich nach seiner bisherigen Stellung zur Neckerschen Politik nicht wenig in Erstaunen setzte. Der Reiz Fräulein Neckers besiegte alle Bedenken der Überzeugung!
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/334&oldid=- (Version vom 31.7.2018)