an dem sie sich, wie mir schien, niederlassen mußte, um zu schluchzen, um zu weinen und zu begraben.
Ich wußte nicht, ob die Trauernde schon reif war, den Toten auferstehen zu lassen, in jener Verklärung, in der ich als Fremder ihn bereits in den Räumen eingetreten fühlte.
Es würde mich nicht verwundert haben, wenn die noch schwer Erschütterte nach den ersten Tönen das Spiel abgebrochen und ihr Gesicht in die Hände vergraben hätte.
Aber sie war reif zum Empfang des Zurückkehrenden. Mit einem wunderbaren Mut, als überschritte sie selbst freudig die Schwelle vom Leben zum Tod, entlockte sie dem Flügel die alten Wohllaute, die nur ihr vertrauten einsamen Jünglingsgefühle des Sohnes, die männlich junge Lust und die männlich jungen Zweifel, die einst in ihm gerungen hatten.
Und als sie eines der letzten seiner Lieder sang, geschah vor meinen Augen das Wunderbare: die reife schöne Frau sang sich an den jugendlichen Weisen ihres Sohnes zur eigenen frühesten Jugend zurück. Und ihr Frauengesicht wurde mädchenhaft, aller Enttäuschungen bar. Mädchenhaft gläubig und vertrauend
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/142&oldid=- (Version vom 31.7.2018)