Vögel, die gewöhnt sind, in lauschigen Buschverstecken in der Urstille ewiger Wälder zu nisten, zu picken, zu flattern und die grünen Dämmerungen der Blättergehäuse alter Bäume zu durchfliegen, hatten hier einen kaum fußbreiten Raum zwischen den blitzenden Metallgittern. Aber sie schienen sich sanft und gütig zu bescheiden und schienen mir weiser zu sein als ihre gefangenen Wärter.
Einmal hatte ich am Tage hier an dem Schaufenster um die Mittagstunde mit den Händen in den Taschen einen armen, ganz dürftig gekleideten Arbeiter stehen sehen. Der schien sich in das Leid der Vögel hineingedacht zu haben. Er sah andächtig jedes Tierchen an und war verwundert, wie mir schien, daß diese schönen geflügelten Geschöpfe kein besseres Schicksal hatten als das des Gefängnisses. Nicht einmal ihren Gesang konnten sie genießen. Denn es singen die verschiedenen Vogelarten zu gleicher Zeit lärmend durcheinander. Es sang der Weltteil Afrika, der Weltteil Australien, der Weltteil Asien. Die Spitzen der Flugfedern an Schwanz und Flügeln haben sich die Vögel an den Gittern abgestoßen. Am Tag fallen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und nachts
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/179&oldid=- (Version vom 31.7.2018)