Seite:De Heimatlos (Spyri) 060.jpg

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Weg eine Wendung, und Rico stand da wie im Traum und rührte sich nicht mehr. Vor ihm lag funkelnd im hellen Sonnenschein der himmelblaue See mit den warmen, stillen Ufern, und drüben kamen die Berge gegeneinander, in der Mitte lag die sonnige Bucht, und die freundlichen Häuser daran schimmerten herüber. Das kannte Rico, das hatte er gesehen, da hatte er gestanden, gerade da, diese Bäume kannte er; wo war das Häuschen? Da mußte es stehen, ganz nah; es war nicht da.

Aber da unten war die alte Straße, o, die kannte er so gut, und dort schimmerten die großen, roten Blumen aus den grünen Blättern; da mußte auch eine schmale, steinerne Brücke sein, dort über den Ausfluß vom See, dort war er so oft hinübergegangen; man konnte sie nicht sehen.

Plötzlich rannte Rico, von brennendem Verlangen getrieben, hinauf auf die Straße und hinüber, da war die kleine Brücke – er wußte alles –, da war er darübergegangen und jemand hielt ihn an der Hand – die Mutter. Mit einem Male kam das Gesicht der Mutter ganz klar vor seine Augen, wie er es nie mehr gesehen hatte, viele Jahre; da hatte sie neben ihm gestanden und ihn angeschaut mit den liebevollen Augen, und den Rico übernahm es, wie noch nie in seinem Leben.

Neben der kleinen Brücke warf er sich auf den Boden und weinte und schluchzte laut: „O, Mutter, wo bist du? Wo bin ich daheim, Mutter?“

So lag er lange Zeit und mußte sein großes Leid ausweinen, und es war, als wollte sein Herz zerspringen und als sei es ein Ausbruch von allem Weh, das ihn bisher stumm und starr gemacht, wo es ihn getroffen hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Johanna Spyri: Heimatlos. Gotha 1878, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Heimatlos_(Spyri)_060.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)