auch, von dessen Stamm er ist.“ – „Christus ist Gottes Sohn, merke dir das,“ schrie sie, wobei ihre Stimme sich überschlug, „und streue nicht Unfrieden in die gläubigen Seelen deiner Kolleginnen.“ Ich schluckte krampfhaft an den aufsteigenden Tränen. „Ich sehe, du bereust deine Sünde, sagte sie würdevoll, „so sei dir für diesmal vergeben,“ und ihre feuchten Hände fuhren mir übers Gesicht. Am liebsten wär ich davongelaufen, aber meine Empörung über die gemeine Art, wie die Mädchen sich an mir gerächt hatten, hielt mich fest, und ich erzählte den ganzen Zusammenhang der Geschichte. Die Wirkung war für mich verblüffend. „Das ist ja natürlich sehr, sehr unartig von ihnen gewesen,“ erklärte sie mit hochgezognen Augenbrauen, „entschuldigt aber in keiner Weise deine weit größere Sünde.“
Verwirrt und erregt trat ich den Weg nach Hause an. Religiöse Zweifel hatten mich noch nie gequält. Ich glaubte an den lieben Herrn Jesus, von dem Großmama mir immer erzählte, der die Unglücklichen tröstet, den Armen Hilfe, den Kranken Heilung bringt und die Kinder lieb hat. Daß Christi Gotteskindschaft von so ungeheurer Bedeutung sein sollte, – das war mir noch nie in den Sinn gekommen. Geradenwegs zu Großmama ging ich und erzählte ihr alles.
„Das hat Fräulein Patze gewiß nicht so schlimm gemeint, wie du das auffaßt,“ sagte sie, „wir sind alle Gottes Kinder; wer aber, wie Christus, den Willen des Vaters in höchster Vollkommenheit erfüllt, der ist sein liebster Sohn.“ Ich war zunächst beruhigt, merkte aber in den Religionsstunden mehr auf den Sinn der Worte als vorher und fühlte bald den Widerspruch zwischen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/064&oldid=- (Version vom 31.7.2018)