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Seite:De Memoiren einer Sozialistin - Lehrjahre (Braun).djvu/163

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Sechstes Kapitel


Ein Oktoberabend war es wieder, wie vor neun Jahren, als ich in Augsburg ankam. Aber diesmal empfing mich die Tante selbst am Bahnhof. Silbergraue Seide schmiegte sich eng um ihre hohe, volle Gestalt; unter dem großen gleichfarbigen Federhut quollen die roten Locken üppig hervor, stahlblau glänzten ihre Augen in dem weißen Gesicht. Noch nie war ich mir der Schönheit dieser reifen Frau so bewußt geworden. Als unser Wagen den Königsplatz erreichte, den ich einst als öde Sandwüste gesehen hatte, spielten die letzten Goldstrahlen der Herbstsonne mit dem bunten Laub seiner Bäume und den fallenden Tropfen seiner Springbrunnen. Und nicht in die enge Gasse, zu dem alten düsteren Hause ging es, – vor einem Park, dessen Blumenpracht dem Herbst zu spotten schien, öffneten sich vielmehr die breiten Flügel des Torwegs, und zwischen den alten Linden lugten die hellen Mauern eines Gebäudes hervor, das in seiner lichten Vornehmheit an altitalienische Villen erinnerte. Ich hatte es noch nicht gesehen, aber genug davon gehört, denn mein Vater war gar nicht damit einverstanden gewesen, daß seine Schwester das alte Stadthaus verkauft und diesen Landsitz, der wie viele seiner Art vor den Stadttoren ein Sommeraufenthalt

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/163&oldid=- (Version vom 31.7.2018)