hohe Barrieren bauen. Ich muß soviel Prosaisches tun, – und wenn ich erst zu Hause bin, wo ich Mama viel abnehmen muß, wird meine Zeit vollends ganz ausgefüllt sein. Es mag Menschen geben, die für die Prosa des Lebens geboren sind; ihnen werden die gewöhnlichen Pflichten nicht schwer; mir werden sie schrecklich schwer… Mein armer Pegasus hat zuerst daran glauben und am Altar der Pflicht verbluten müssen!… Es ist am Ende das Beste so. Was soll ein armes Mädel mit ihm anfangen? Die Phantasie war das Unglück meines Lebens; sie aus mir herauszuschneiden war eine gräßlich schmerzhafte Operation. Nun, da sie gelungen ist, will ich das, was blieb, nur benutzen, um Haus und Leben damit zu schmücken, meinen Eltern und einmal meinem Mann zu dienen.“
Ich war wirklich eine „junge Dame“ geworden; ich fühlte nicht einmal mehr, daß die hoffnungsvollsten Triebe meines Lebensbodens niedergetrampelt waren. „Man beurteilt ein junges Mädchen nach seinem Aussehen, weniger nach seinem Wissen“, schrieb ich, mir die Ansichten der Tante zu eigen machend, „sie wird mit Recht für arrogant gehalten, wenn sie schon eine eigne Meinung haben will“. Mein Tagebuch, das ich seit dem Augsburger Aufenthalt nicht berührt hatte, weil ich es nicht durfte, blieb auch jetzt unausgefüllt, obwohl mich niemand mehr daran hinderte. Großmama frug einmal brieflich danach, und ich antwortete mit schnippischem Selbstbewußtsein: „Ich schreibe keins, weil ich finde, daß man sich in meinem Alter darin Dinge vorlügt, die man nicht denkt, und aus Ereignissen wichtige macht, die man besser vergißt. Mein Leben brauche ich
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/181&oldid=- (Version vom 31.7.2018)