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ein Lauschen, ein Empfangen. Zur ärmsten Zeit Deutschlands, – wie reich war sie gewesen! Und eine Heimat hatte sie gehabt, aus der die Wurzeln ihrer Seele noch heute Lebenskräfte sogen.

Ich saß am Kupeefenster im Abenddämmerlicht; Großmama schlummerte mir gegenüber, noch ein Lächeln der Erinnerung auf den Zügen. Wälder und Felder, Häuser und Gärten flogen an mir vorbei. So ist mein Leben, dachte ich. Alles entschwindet mir, kaum daß ichs betrachten konnte; nirgends wurzle ich. Dabei fielen mir Verse ein, die ich hastig in mein Notizbuch kritzelte:

Ein Vagabund bin ich genannt,
Will niemand von mir wissen;
Die Sohlen hab ich durchgerannt,
Mein Wams ist längst zerschlissen.

Zur Arbeit ruft man mich umsunst,
Trag nicht danach Verlangen,
Steh bei der Lerche hoch in Gunst,
Die läßt sich auch nicht fangen;

Die singt ihr Lied auf freiem Feld
Mit freier, lustger Kehle,
Die schmettert hoch in alle Welt,
Und hörts auch keine Seele.

Doch eines ist, das wurmt mich schwer:
Sie hat ein Nest, ein kleines; –
Ich zog die Lande hin und her –
Wo aber, sagt, ist meines?!

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/228&oldid=- (Version vom 31.7.2018)