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meiner alten Neigung begegneten, Scherers Geschichte der Deutschen Literatur, die eben erschienen war, und die ich eifrig studierte, Webers Welt- und Lübkes Kunstgeschichte und daneben in wirrem Durcheinander griechische Klassiker, russische Novellisten, altdeutsche Heldenlieder in braunen Reclambänden, moderne Lyriker in goldüberladenem Prachtgewand.

Noch spät am Abend kramte ich in meinem Zimmer, überzeugt, daß niemand mich stören würde, da sich die Schlafstuben der Eltern ein Stockwerk höher befanden, als meine Mutter eintrat. „Noch nicht zu Bett?!“ rief sie und musterte ärgerlich meine Umgebung. Dabei fiel ihr Blick auf Bilder und Bücher. „Du bildest dir doch nicht ein, daß ich dergleichen dulden werde: diese schamlosen nackten Frauenzimmer und dies Bild eines Verrückten?“

Mir stieg das Blut zu Kopf: „Das ist mein Zimmer, so viel ich weiß,“ sprudelte ich hervor, meine Worte überstürzend, wie stets, wenn die Erregung mir den Mut zur Rede gegeben hatte, „und ich bin alt genug, meinem Geschmack zu folgen. Soll ich vielleicht Thumann aufbauen, der Germanen malt wie Salonhelden, und dessen Frauen aussehen wie lauter wohl erzogne und gut toilettierte Bazardamen? Solche Verlogenheit mag ich nicht, – sie ist schamloser, als nackte Schönheit. Es ist mir auch ganz gleichgültig, ob die Leute Böcklin für verrückt halten. Ich finde, es wäre zum davonlaufen in der Welt, wenn nicht die paar Verrückten sie noch erträglich machten.“

„Das magst du halten, wie du willst“, antwortete Mama, und nur ihre heißen Wangen verrieten ihren Zorn.

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/255&oldid=- (Version vom 31.7.2018)