auf mich, wenn du willst, aber ihn – ihn darfst du nicht anrühren.“ Papa sah mich groß an, wandte sich ab und stöhnte qualvoll. Das ertrug ich nicht mehr. Weinend warf ich mich ihm zu Füßen. „Papachen – hab’ doch Mitleid mit mir – mein Unglück ist doch schon groß genug“, schluchzte ich. Und dieselbe Hand, die mich fast geschlagen hätte, hob mich empor. „Mein armes, armes Kind,“ sagte er, und mit dem Ausdruck eines zu Tode Verwundeten sah er mich an.
Mama war still gewesen bis dahin. Jetzt hörte ich ihre ruhige kühle Stimme wie von weit, weit her. Sie las den Brief der Tante vor, ich verstand ihn kaum, nur die Worte „Pflicht“, „Opfer“, „Ehrgefühl“ wiederholten sich, wie es schien, häufig. „Alix wird,“ so schloß er ungefähr, „durch diese Erfahrung klug werden und ihre zügellosen Leidenschaften bändigen lernen. Unser ganzes Leben ist Entsagung und Pflichterfüllung …“ Ich lachte gellend auf bei dieser schönen Tirade, um gleich nachher in einen wilden Weinkrampf auszubrechen. Papa trug mich in mein Bett. Meine Mutter verließ mich von da an keine Minute. Gegen Abend ließ sie mich aufstehen. Kaum auf den Füßen konnt ich mich halten, und vor Schmerzen hätte ich am liebsten geschrien, aber meine Willenskraft war stärker als alles. Ich vermochte es sogar, meinen Vater dankbar anzulächeln, als er mir mitteilte, er habe „die schwere Aufgabe auf sich genommen, den Prinzen über den Ausgang der traurigen Angelegenheit in Kenntnis zu setzen.“
Als ich dann, wie immer, im Nebenzimmer den Tee bereitete, hörte ich, mit meinen fieberhaft geschärften Sinnen, Mama zu ihm sagen: „Ich kenne Alix genug, um keine
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/303&oldid=- (Version vom 31.7.2018)