Großmama meinte, daß ich durch sein Abwehren beleidigend wirkte.
„Ich kann nicht anders, Großmama,“ sagte ich, „wenn ich der armen Lene eine Suppe bringe, so schäme ich mich, daß ich mich am liebsten vor ihr verstecken möchte. Warum in aller Welt bin ich nicht die Lene?!“
„Daß du es besser hast, mußt du mit besser sein vergelten,“ entgegnete sie ernst. Meine Empfindung aber steigerte sich nur. Das Rätsel des Elends in der Welt und seine Unlösbarkeit richtete sich riesengroß vor mir auf, ein Felsentor mit schwarzer Eisenpforte. Rostflecke bedeckten sie und Blut klebte an ihr, – Zeichen der vielen, die an ihr rüttelnd vergebens Eingang verlangt hatten. Niemand besaß den Schlüssel, und der Glaube, der über sie hinwegträgt zu sonnigen Welten jenseitiger Vergeltung, war mir verloren gegangen.
Abends lasen wir miteinander, Großmama und ich. Die stenographischen Berichte der Reichstagsverhandlungen, die sie durch ihren Sohn regelmäßig erhielt, bildeten damals ihre Lieblingslektüre. Mich langweilten sie zunächst schrecklich, ich verstand ja nicht einmal das ABC der Sache. Daß Bismarck, den wir alle wie einen Halbgott verehrten, sich mit der ganzen Leidenschaft seiner Sprache, dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit für etwas, meiner Empfindung nach so Untergeordnetes, wie das Branntweinmonopol ins Zeug legte, kam mir komisch, ja fast verächtlich vor. Erst als Ende März die Frage der Verlängerung des Sozialistengesetzes auf der Tagesordnung stand, wuchs mein Interesse mit der dramatischen Bewegtheit der Verhandlungen.
Meine Großmutter war von je her eine Gegnerin aller
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/314&oldid=- (Version vom 31.7.2018)