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zu ihnen empor getragen wurde; – aber fürchterlicher, als all diese Bilder, haftete ein anderes unauslöschlich in meinem Gedächtnis: jener grauende Morgen, an dem sich vor dem wieder geöffneten Schacht scheu und gebückt, still und demütig all die zusammen fanden, die eben noch für ihre Freiheit Leib und Leben eingesetzt hatten. „Was willst du – ich hab ein Weib!“ sagten sie müde, „ich habe Kinder – eine Mutter – mich hungert;“ und die Maheude, die Furie des Aufstands, zählte schon die Jahre ihrer Jüngsten, bis auch sie reif wären zur Einfahrt, – „sie tragen alle ihre Haut zu Markte, die Reihe kommt auch an sie!“ – Daß es Hunger und Not und Elend gab, – entsetzlich war es; entsetzlicher noch, daß die Menschen es ertrugen.

Inzwischen war über Nacht mit all seiner Herrlichkeit der Mai ins Land gezogen, und vorbei wars mit der Stille in Großmamas grünem Zimmer. Ihr Sohn und die Seinen kehrten heim, und ein Taubenschlag war aufs neue das alte Schloß von Pirgallen. Ich wars zufrieden; ein Netz von Schwermut schnürte mir den Atem ein, leer, zweck- und ziellos erschien mir das Leben, und alle Mittel versagten, um mir selbst zu entfliehen.

„Ich habe in letzter Zeit wieder so unter den einsamen Grübelstunden gelitten und war so am Ende alles Denkens angelangt,“ schrieb ich an meine Kusine, „daß der Trubel der Geselligkeit gerade zur rechten Zeit kam; ich muß in diesem betäubenden Meer des Vergessens wieder untertauchen, um nicht zu sterben vor Melancholie.“ Und ein paar Wochen später: „Wenn man mit sich und der Welt so zerfallen ist wie ich, so ist es das Beste, nicht zur Besinnung zu kommen. Ich genieße das Leben,

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/319&oldid=- (Version vom 31.7.2018)