Onkel eine geräumige Villa dicht am Strand gemietet hatte. Das reizende Seebad war überschwemmt mit dem Adel Ostpreußens, und mit jener Selbstverständlichkeit aller Bevorrechteten, die sich unbewußt immer als Mittelpunkt des Weltganzen fühlen und die übrige Menschheit nicht anders ansehen als ihre Kammerdiener, vor denen man sich auch ungeniert gehen lassen kann, dominierte unser großer lustiger Kreis überall: wir nahmen die besten Plätze ein, die besten Schiffe beanspruchten wir, und wir dachten nicht im entferntesten an die Ruhebedürftigkeit anderer Badegäste, wenn wir bis tief in die Nacht hinein im Kursaal tanzten und vom Strand aus prasselnde Feuerwerke gen Himmel steigen ließen. Unsere alten Herren saßen bei Regen und Sonnenschein beim Skat und kümmerten sich wenig um uns, so daß die Jugend sich doppelt des Lebens freute. Ein kleiner Graf, den wir, wegen seiner frappanten Ähnlichkeit mit den dünnen Spieläffchen aus Seide, den Chenille-Grafen getauft hatten, gab den Ton an. Er war häßlich, aber ungemein gewandt und graziös, seine Schlagfertigkeit, sein beißender Witz, der nicht frei von Zynismus war, seine chevalreske Art Damen gegenüber, die einen Stich von Impertinenz besaß, seine vielseitige künstlerische Begabung, die überall im leichtfertigen Dilettantismus stecken geblieben war, machten ihn in diesem Kreis zu einer nicht alltäglichen Erscheinung. Eine „Partie“ war er nicht; er konnte sich daher onkelhafte Freiheiten gestatten, und für mich, die ich, wie er, nichts suchte als Amüsement, war er der gegebene Kavalier.
Eines abends – wir saßen wie gewöhnlich im Sande
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/321&oldid=- (Version vom 31.7.2018)