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fassen. Mir stoben Funken vor den Augen, und ich fühlte nichts mehr als die wiegende, schleifende Bewegung und den heißen, keuchenden Atem meiner Tänzer. Plötzlich, mitten im wilden Abschiedsgalopp, stand alles still, wie von einem Zauber gebannt, die Musik brach ab, mit kurzem Gruß huschten die Damen hinaus, rasch warfen die Herren den Mantel über die Schultern – zwölf schlug die tiefe Glocke vom Domturm, Aschermittwoch klingelte das schrille Glöcklein von der Liebfrauenkirche.

Mit einem Schlag schien das Leben erloschen. Still, mit verhängten Fenstern lagen von nun an wieder die Adelshöfe. Nur drüben im Erbdrostenhof regte sichs noch: gestern hatte die schlanke Tochter des Hauses mit uns getanzt, heute nahm sie im Kloster der Ursulinerinnen den Schleier. Wie eine glückliche Braut ward sie von all den Ihren geleitet, und sie selbst lächelte wie eine solche. Mit einem Glanz verklärter Freude auf den Zügen leisteten ihre Brüder – die übermütigsten Tänzer sonst – die Ministrantendienste bei der heiligen Handlung. Und doch wußten alle, daß es ein Abschied für immer war, denn in strenger Klausur verbringen die Ursulinerinnen ihr nur dem Gebet und der Buße geweihtes Leben.

Während der Fastenzeit kamen Kapuzinermönche nach Münster, die besten Kirchenredner ihres Ordens. Sie sprachen von vier Kanzeln dreimal des Tags, und Kopf an Kopf drängte sich jedesmal die Menge und hielt geduldig stundenlang stehend aus. Ich ging wiederholt in den Dom; die fanatische Beredsamkeit dieser blassen Männer in ihren braunen Kutten war überwältigend.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/365&oldid=- (Version vom 31.7.2018)