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erwiderte ich lächelnd. „Nein, Hochwürden, mit ihr hat die katholische Kirche nichts zu tun! Und gerade das ist es, was ich an ihr liebe und bewundere.“ Sprachlos starrte der Priester mich an. „Ich begreife nicht –“ brachte er schließlich hervor. „Darf ich es Ihnen erklären?“ Er nickte zustimmend.

„Meiner Ansicht nach ist die ursprüngliche Lehre Christi mit ihrem Asketismus, ihrer Verachtung des Lebens, der Freude, der Schönheit, ihrer Menschenfeindschaft, – bei aller Betonung der Menschenliebe, – der Natur der abendländischen Völker so widersprechend, daß sie sich in ihrer Reinheit gar nicht durchsetzen konnte. Wir sind Heiden, sind Sonnenanbeter; mit den Geschöpfen unserer Träume beleben wir Feld und Wald, Berg und Tal. Karl der Große hat das rasch begriffen, und seine Missionare mit ihm. Sie hatten häufig genug selbst Sachsenblut in den Adern. Darum bauten sie an Stelle der Heiligtümer Wotans, Donars, Baldurs und Freyas die Tempel Ihrer vielen Heiligen; darum erhoben sie nicht den Gekreuzigten, sondern die Mutter Gottes, das Symbol schaffenden Lebens, auf den Thron des Himmels. Darum schmücken die Diener des Mannes, der nichts hatte, da er sein Haupt hätte hinlegen können, ihre Gewänder, ihre Altäre und ihre Kirchen mit Gold und Edelsteinen und zogen die Kunst in ihren Dienst. Vom Standpunkt Christi aus hatten Ihre Wiedertäufer Recht, die die Bilder zerstörten, aber die lebensstarke Natur ihrer Volksgenossen hat sie ins Unrecht gesetzt. Und wissen Sie, was mich in meiner Auffassung vom heidnischen Charakter des Katholizismus und seiner Lebensfähigkeit infolgedessen bestärkte: der eben verflossene

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 365. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/367&oldid=- (Version vom 31.7.2018)