„Ketzerische Gedanken?!“ – er warf mir einen tadelnden Blick zu – „vielleicht! Aber andere, als Sie anzunehmen scheinen! So milde, wie die Herren hier, vermag ich die Dinge nicht zu beurteilen. Nach meiner Ansicht hat eine gewissenlose sozialdemokratische Agitation die gut bezahlten Bergarbeiter zum Kontraktbruch verführt, und es ist unsere Pflicht, sie, wenn es sein muß, mit Gewalt auf den Weg des Rechts zurückzuführen. Wortbruch und Pflichtvergessenheit sind überall der Anfang vom Ende.“
„Ganz Ihrer Meinung, Herr von Syburg!“ antwortete ich, während mir das Blut heiß in die Schläfen stieg. „Es kommt nur darauf an, auf welcher Seite Wortbruch und Pflichtvergessenheit zu finden ist! Wenn die Grubenbesitzer, die in der glücklichen Lage sind, eine Havanna rauchend vor dem Tischlein-deck-dich zu sitzen, den Arbeitern nicht so viel geben, daß sie anständig leben können, so ist das Pflichtvergessenheit; und wenn sie, die zu allen Vergnügungen der Welt Zeit haben, ihnen das althergebrachte Recht auf eine geregelte Arbeitszeit vorenthalten, so ist das Wortbruch!“
Syburg preßte die Lippen zusammen, – er zwang sich offenbar zu einer ruhigen Antwort.
„Sie sprechen aus der Gefühlsperspektive der Frau. Das ist verzeihlich. Sie kennen, Gott sei Dank, diese aufrührerische, mit sozialdemokratischen Phrasen vollgefütterte Bande nicht, die jetzt auf den Gruben und in den Fabriken das große Wort führt und an allem rüttelt, was uns heilig ist.“
Wie eine Vision sah ich plötzlich all die Gestalten des Elends wieder, die mir im Leben begegnet waren:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/400&oldid=- (Version vom 31.7.2018)