hinauf. Er lief immer mehr, je weiter er kam; tauchte irgendwo ein Mensch auf, so bog er seitwärts in die Wälder. Zuweilen folgte ihm vorsichtig spähend ein junges blasses Mädchen, dem die schwarzen Locken im Wind wild um die Stirne tanzten. Aber sie kam nicht weit, – sie hätte schließlich laufen müssen, um ihn im Auge zu behalten, und das Herz klopfte ihr zu stark. So ging sie denn aufseufzend, mit einem sorgenvollen Zug um den Mund, die schmale Treppe wieder hinauf, in die Puppenwohnung mit den verschossenen Puppenmöbeln, den bunten Öldrucken an der großblumigen Tapete, dem unbehaglich dürftigen Pensionsfrühstück auf dem runden Tisch. Sie schluckte den dünnen Kaffee, aß widerwillig ein winziges Brötchen und sprang mit nervöser Hast auf, als nebenan Stimmen laut wurden. „Schwester!“ rief die eine halb verschlafen – „Alix!“ klang eine andere, scharfe, spitze durch die zweite Tür. Vor dem kleinen Mädchen knieend, das sich die goldenen Löckchen wohlgefällig über die rosigen Fingerchen wickelte, zog sie ihm Strümpfe und Schuhe an, um gleich darnach zur Mutter zu gehen, die vor dem Spiegel der geschickten Hände ihrer Ältesten wartete.
„Papa war heute wieder sehr böse über den schlechten Kaffee,“ sagte sie, während sie mit dem Kamm durch die noch immer vollen blonden Haare ihrer Mutter fuhr, „und der Ofen will auch nicht brennen, – wir sollten doch lieber umziehen!“
„Du weißt, daß alle anderen Pensionen erheblich teurer sind,“ antwortete die Mutter gereizt, „Hans muß sich eben an Einschränkung gewöhnen.“
Kam der Vater gegen Mittag zurück, mißmutig und
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/434&oldid=- (Version vom 31.7.2018)