ausgegangen – ich mache mir nicht das mindeste daraus.“
Er schüttelte bekümmert den Kopf, – nun war er vollends ratlos. Wie gut, dachte ich, daß seine Jüngste, Ilschen mit dem Goldhaar, die allzeit Fröhliche, ihm immer wieder die Sorgenfalten von der Stirne lachte und schmeichelte. Oft schickte ich sie hinein, wenn ich ihn in trüben Gedanken wußte. Sie verstand es, wie Sonnenschein, alle Regentropfen glitzern zu machen. Und jeden Abend trieb sie die bösen Geister, die sich am Tage heimlich eingeschlichen hatten, mit ihren Wirbeltänzen zu Türen und Fenstern hinaus. Sie hatte Musik in den Gliedern; jede Melodie wurde ihr zur rhythmischen Bewegung. Unermüdlich pfiff der Vater, und auf und nieder, hin und her flog sie, ein flatternder Irrwisch – mit Feuerfunken in den Augen und glühenden Rosen auf den Wangen. Ganz verängstigt flackerte die kleine Petroleumlampe, – aufgestört aus ihrer würdevollen Ruhe, mit der sie sonst nur fleißige Hände und stille Menschen zu bescheinen gewohnt war. Ich saß indessen am Tisch und beugte den Kopf immer tiefer auf die Arbeit; oft schlich ich still hinaus, – ich wußte nur zu gut, daß mich niemand vermissen würde.
Ich wurde blaß und schmal, und blaue Ringe umschatteten meine Augen.
Da kam eines Tages ein Telegramm aus Pirgallen: „Mama im Sterben. Walter“. Mir lähmte der Schreck die Glieder; stumpfsinnig sah ich zu, wie meine Mutter in Tränen ausbrach. Ich kannte den Tod ja nur vom Hörensagen; noch war mir niemand von denen gestorben, die mir die liebsten waren. Erst als ich sah,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/443&oldid=- (Version vom 31.7.2018)