um diese Zeit, und ihr Entsetzen über mein Aussehen machte meine Eltern erst darauf aufmerksam.
„Was fehlt dir bloß?“ rief mein Vater besorgt.
„Ein bißchen Leben, Exzellenz,“ schnitt Rittmeister von Behr mir die Antwort ab. „Bäume, Berge und Wasserfälle sind keine rechte Gesellschaft für Ihr Fräulein Tochter. Geben Sie sie uns mit nach Hannover; hat sie mit uns erst ein paar Pullen Sekt geleert und ein paar Gäule kaput geritten, dann wird das Blut ihr schon wieder in die Wangen schießen.“
Ich lehnte die Einladung ab: „Wir sind in tiefer Trauer, Herr von Behr, und mein schwarzes Kleid paßt kaum in Ihre Gesellschaft.“ Als wir allein waren, sagte meine Mutter mit einem kaum merklichen Zögern: „Wenn das schwarze Kleid allein dich zurückhält, so kannst du es ruhig mit einem weißen vertauschen. Hier ist Mamachens letzter Brief an mich, worin sie den Wunsch ausspricht, daß ihre Enkel keine Trauer anlegen sollen.“ – „Und das sagst du mir jetzt erst?!“ entfuhr es mir, – hatte ich es doch die ganze Zeit über wie eine Beleidigung der Toten empfunden, die Trauer um sie den neugierig-mitleidigen Blicken aller Welt preiszugeben. Meine Mutter verstand mich falsch.
„Ich hätte nicht geglaubt, daß du so wenig Herz hast,“ meinte sie gekränkt, „dann wirf nur den Krepp beiseite und geh deinem Vergnügen nach.“
In der nächsten Viertelstunde war ich bereits umgezogen, aber bei meiner Weigerung Herrn von Behrs Einladung gegenüber blieb ich. Erst Papas Bitten, seinen Vorwürfen und seinen sorgenvollen Blicken, die ich stets auf mir ruhen fühlte, gab ich schließlich nach.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/448&oldid=- (Version vom 31.7.2018)