„Meinen Sie denn nicht auch, daß nur einer öffentlich auszusprechen braucht, was alle an – wie Sie sagen – ketzerischen Gedanken in sich tragen, um jedem die Zunge zu lösen?! Wie ein großes befreiendes Aufatmen würde es durch die Menschheit gehen –“
In diesem Augenblick schlug einer ans Glas: „Das höchste Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde, und am Herzen des Weibes – –“ Es gab ein allgemeines Stühlerücken – Anstoßen – Gelächter. Alles umringte mich und forderte von mir eine Antwort. Ohne viel Überlegung brachte ich auf die lustigen Majore, die am Jungbrunnen von Hannover wieder zu Leutnants geworden wären, einen Trinkspruch aus. Und wieder klangen die gefüllten Gläser aneinander, und alle Rosen, die die Tafel geschmückt hatten, häuften sich vor mir. Aber ich lächelte nur mechanisch über die Huldigung. „Wie ein großes befreiendes Aufatmen wird es durch die Menschheit gehen, wenn nur einer auszusprechen wagt, was alle an ketzerischen Gedanken in sich tragen,“ – das ließ mich nicht los. In meinem Koffer zu Haus lag ein schwarzes Buch, – war es wirklich meine höhere Pflicht, das Schwesterchen zu unterrichten, der Mutter die Haare zu kämmen und mit schlechter Dilettantenarbeit ein paar Taler zu verdienen – statt das erlösende Wort in die Welt zu rufen? Denn felsenfest glaubte ich daran, daß es ein erlösendes Wort sein würde.
Am nächsten Vormittag besuchte mich Egidy. Er hatte ein Manuskript bei sich, mit den klaren, großen Schriftzügen des Soldaten bedeckt, wie ich sie bei meinem Vater gewohnt war. „Ernste Gedanken“ nannte er es. Wir
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/451&oldid=- (Version vom 31.7.2018)