„Der Kaiser?!“ rief ich, auf das äußerste überrascht.
„Ja der Kaiser!“ wiederholte er mit fester Stimme. „Ihm vertraue ich vor allem. All sein Tun ist von wahrhaft christlichem Geiste erfüllt: seine Erlasse, seine Arbeiterpolitik – denken Sie nur an die Arbeiterschutz-Konferenz!“
„Ich bin ganz und gar anderer Meinung, Herr von Egidy, und Ihr Vertrauen ist mir viel zu wertvoll, als daß ich Ihnen nicht die Wahrheit schuldig wäre,“ antwortete ich in tiefer Bewegung. „Sie sollen Ihre Schrift erscheinen lassen – gewiß –, aber die Bewegung, die Sie erwarten, wird ausbleiben. Denn was heute not tut, ist nicht eine Erneuerung, sondern eine Überwindung des Christentums, dazu werden Sie beitragen, weil auch Ihr Werk Steine abbröckelt vom Bau der Kirche. – Sie lächeln?! Nun – ich gebe zu, daß in meinem Mund vermessen klingen mag, was ich sage, – vielleicht irre ich mich, vielleicht haben Sie recht, aber eins weiß ich ganz gewiß: der Kaiser wird Sie nicht unterstützen – doch den schönen bunten Rock ausziehen, – das wird er Ihnen!“
Ungläubig erstaunt sah mich Egidy an: „So jung und so pessimistisch! Dieser Rock und dies Buch sind einander doch nicht unwürdig. Und wenn ich als Soldat und als Christ meine Pflicht erfülle, – wie könnte mein Kaiser mich dieses Rocks entkleiden?!“
Ich schwieg. Wie eine Entweihung wäre mirs vorgekommen, dieses Mannes rührenden Kinderglauben noch einmal anzutasten.
Der nächste Tag war der letzte meines Aufenthalts in Hannover, und mit einer Schleppjagd sollte an demselben
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 451. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/453&oldid=- (Version vom 31.7.2018)