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heiß durch die Adern rollt! Soll ich auf ewige Seligkeit vertrösten? Ein schwacher Trost für den, der die irdische noch nicht durchkostet hat. Lerne dich bescheiden, werde so rasch wie möglich alt und kühl, – ist das nicht am Ende der beste Wunsch?!

In treuer Freudschaft 
Deine Alix.“ 


Berlin, 20.2.91 

 Liebe Mathilde!

Seit meinem letzten Brief und Deiner Antwort – die meiner Erwartung vollkommen entsprach, alldieweil Du meine Arbeitswut nur als Intermezzo zwischen zwei Romankapiteln betrachtest – sind wieder einige inhaltreiche Wochen vergangen. Ich fange allmählich an, den Pulsschlag des Weltlebens zu empfinden und den meinen auf denselben Takt einzustellen, wobei ich allerdings immer deutlicher den Gegensatz zwischen mir und der lieben Verwandtschaft empfinde, deren Blut so träge fließt, daß es eigentlich Anno 70 noch kaum überwunden hat. Der jüngste Familienzuwachs ist nach der Richtung besonders charakteristisch. Du entsinnst Dich, daß Papa einen jüngeren Bruder hatte, der Geistlicher war und im Irrenhaus starb. Er hinterließ eine Wittwe mit fünf Kindern in bedrängtester Lage, und Tante Klotilde mußte sich wohl oder übel entschließen, das Ihre zur Erhaltung der Familie beizutragen, was sie natürlich von vornherein gegen sie einnahm. Die mütterlichen Verwandten taten desgleichen; Papa verschaffte den Söhnen ein Unterkommen im Kadettenkorps, Mama erreichte, daß eine der Töchter die mir zugedachte Freistelle

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/463&oldid=- (Version vom 31.7.2018)