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und mutig darauf zu richten, nicht zu schaudern vor der Wahrheit, die im zerschlissenen, blutbefleckten Gewande der Not der schier endlosen Schar der Hungernden und Blinden, der Lahmen und Verkrüppelten, der Irren und der Kettenträger voranschritt. Wer sehend war, erkannte unter ihrem Bettlermantel das Königskleid, und ihm wandelte sich die Geißel, die sie trug, zur Fahne des Sieges.

Das Grauen verschwand, ein Gefühl unbezwinglicher Kraft überkam mich. O, ich war stark genug, um, Seite an Seite mit den anderen, Ruinen einzureißen und Felsen aufeinander zu türmen!

War ich es wirklich?! Beugte ich mich nicht ängstlich jenem pedantischen Schulmeister, dem Alltag, der mich jeden Morgen aus meinen Träumen weckte, mich zwang, zwanzig alte, muffig riechende Bücher zu durchstöbern, um über irgend einen vergessenen Zeitgenossen Goethes einen kleinen Artikel zu schreiben, oder meinem Schwesterchen beim Rechnen beizustehen, oder Mamas Winterhut neu zu garnieren, oder für ein Dutzend überraschender Abendgäste den Tisch zu decken?!

In der Goethe-Zeitschrift waren inzwischen meine Aufsätze erschienen, und von den Weimarer Freunden und Verwandten meiner Großmutter wurde mir eitel Anerkennung zu Teil. Auch der Großherzog ließ mir sagen, wie sehr ihn interessiere, was ich schreibe, und legte mir nahe, nach Weimar zu kommen, wo ich zu neuen Studien und Arbeiten alle Türen offen und alle Menschen hilfsbereit finden würde. Mein Vater strahlte über diesen Erfolg und begriff nicht, wie ich auch nur einen Moment zögern könne, der Anregung Folge zu leisten.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/469&oldid=- (Version vom 31.7.2018)