„Der Pöbelruhm Zolas und Ibsens ist den Leuten zu Kopfe gestiegen,“ eiferte Dr. Friedrich, der von vielen als zweiter Lessing gepriesen wurde, und sein schmales bartloses Gesicht rötete sich. „Man spekuliert auf die ganz gemeine Freude am Schmutz, und hat damit natürlich die Masse auf seiner Seite. Was würde der Große hier sagen“ – er wies mit einer theatralischen Gebärde auf die Bilder an den Wänden – „wenn er diese Entartung der deutschen Literatur hätte erleben müssen!“
Eine Pause trat ein. Juliane Déry stampfte mit dem Fuß und biß sich die vollen Lippen wund, aber auch sie schwieg. Die Autorität des gefürchteten Mannes wirkte lähmend auf alle. Ich allein war noch viel zu naiv, um von seiner Macht eine Ahnung zu haben.
„Ich glaube, niemand würde die Jungen besser verstehen und würdigen als er,“ begann ich leise und stockend, während ängstliche, warnende und spöttische Blicke sich auf mich richteten. „Sein Werther, sein Meister, sein Faust und sein Gretchen vor allem mögen die meisten seiner Zeitgenossen durch ihre Wahrhaftigkeit nicht minder verletzt haben als die Enthüllungen des äußeren und inneren Elends der Gegenwart Sie heute verletzen. Mir scheint, Dichter und Künstler müssen uns die Wahrheit zeigen, wie sie ist, weil wir selber nicht den Mut haben, sie aus eigener Kraft zu sehen.“
Man unterbrach mich; Rufe der Entrüstung wurden laut, ich wollte schon verschüchtert schweigen, als ein kühler, herausfordernder Blick Dr. Friedrichs mich traf, der jetzt dicht vor mir stand.
„Reden Sie nur weiter, gnädiges Fräulein, reden Sie!
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/474&oldid=- (Version vom 31.7.2018)