Verträumt und erstaunt sah ich um mich, als ich acht Tage später in Weimar ankam. Stand die Zeit hier seit zehn Jahren still?! Derselbe helle Maienabend wie damals empfing mich. Und in dasselbe alte Haus an der Ackerwand führte mich die Hofequipage, wie einst, als die Großmutter ihr Enkelkind zum erstenmal hergeleitete. Sie freilich war nicht mehr da, und doch war mirs, als ob ihr Kleid neben mir die Treppe hinauf rauschte. Auch ihr Bruder war lange tot, und doch schien’s, als wäre der schöne, tief brünette Mann mit den schmalen Händen und dem leicht gebeugten Nacken, der mich empfing, kein anderer als er.
Im Rokokosalon mit den vielen Miniaturen über dem graziösen Sofa und den verblaßten Pastellbildern an der mattblauen Seidentapete erhob sich aus dem goldgeschnitzten Lehnstuhl am Fenster ein schlankes Frauenbild und streckte mir mit einem süß-zärtlichen Lächeln ein weißes Händchen entgegen. War das wirklich die Gräfin Wendland – meine Tante –, oder war es nicht Frau von Stein, deren Schatten sich aus dem Nebenhaus hierher verirrt hatte?! Dann kamen die Kinder und begrüßten mich, – lauter kleine Elfen mit allzu schweren Haaren auf den feinen Köpfchen und allzu großen Blauaugen über den schmalen Wangen.
Draußen vor meinem Zimmer plätscherte der Brunnen, wie vor uralten Zeiten, und die Bäume rauschten feierlich, als träfe ihre Kronen niemals ein Wirbelsturm.
Am nächsten Morgen besuchte mich der Großherzog. Er kam zu Fuß und unangemeldet, mit den raschen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/483&oldid=- (Version vom 31.7.2018)