Lebhaft widersprach Werner von Eberstein, ein junger Historiker, der im großherzoglichen Hausarchiv tätig war. „Für den Mann der Wissenschaft gibt es nichts Besseres, als in diesen sicheren Port einzulaufen, wo nichts ihn von seinen Studien ablenkt.“
Die Tante ergriff lebhaft Gleichens Partei. „Alten Leuten mag das entsprechen. Euch Jungen aber muß der Sturm erst tüchtig um die Nase blasen,“ sagte sie. „Ausgegangen sind viele von hier, mit Schaffenskraft gesättigt, aber etwas geworden sind sie erst außerhalb unserer milden Luft. So gern ich Euch habe, Kinder, – hinaustreiben möcht ich Euch alle miteinander,“ und damit nickte sie dem schmalbrüstigen Musiker und der schüchternen kleinen Schriftstellerin zu, um sich gleich darauf an mich und an Eberstein zu wenden, der neben mir saß und ihr Neffe war:
„Ihr seid beide schon in Vorschußlorbeeren eingewickelt bis an den Hals, aber trotzdem gebe ich euch noch nicht auf. Habt die Selbstverleugnung, sie abzureißen! Hofluft erstickt Talente, genau so wie die der Hinterhausstuben.“
„Sie sind ganz blaß und still geworden, liebes Fräulein,“ sagte Gleichen, als er mich spät in der Nacht nach Hause begleitete. „Glauben Sie, ich hätte meine verrückten Krautgärten malen können, wenn ich die Blumen und die Sonne nicht anderswo gesehen hätte als hier?!“
Er kam mir vor wie ein alter Freund, obwohl ich ihm zum erstenmal begegnet war.
„Aber vielleicht bedeutet Weimar für mich, was für Sie die übrige Welt bedeutet: Leben – Befreiung?!“ antwortete ich.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 489. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/491&oldid=- (Version vom 31.7.2018)