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„Also werd’ ich nach Pirgallen gehen,“ sagte ich laut, wie zu mir selbst.

„Nach Pirgallen?!“ frug die kleine Rokokogräfin erstaunt. „Man rechnet doch auf dich für Wilhelmstal!“ „Ich werde ablehnen müssen, – mein Buch soll zum Herbst fertig werden, – ich brauche den Sommer zur Arbeit,“ antwortete ich ein wenig zögernd. Es war ein paar Augenblicke still in dem weißen, von der Morgensonne hell durchfluteten Speisesaal. Nur der Teekessel sang, und draußen über das holprige Pflaster rasselte eine Hofequipage.

„Überlege es dir reiflich,“ begann Graf Wendland langsam und sah mit gerunzelter Stirn auf seine blanken Fingernägel. „Es ist vielleicht eine Lebensentscheidung, die du triffst“, – ein langer prüfender Blick traf mich, – „du weißt wohl noch nicht – Prinz Hellmut hat am Mariental das Schloß seiner eben verstorbenen Tante übernommen …“

Wieder war es still. Ich hörte das Summen einer Biene am Fenster und sah, wie schwarz und schwer das alte eichene Buffet sich von der weißen Wand abhob. Mein Herzschlag setzte aus, um im nächsten Moment atemlos zu toben, wie eine rasende Maschine. Hellmut – –! Er hatte mich gehen heißen, als ich mich ihm geben wollte – –! Aber hatte er nicht, wie ich, unter dem Zwang großer, selbstverleugnender Liebe gehandelt – –? Doch warum kam er nicht wieder – jetzt, da er ein freier Mann war? – Ich strich mir mit eiskalten, zitternden Fingern die Locken aus der Stirn:

„Mein Entschluß steht fest, – ich gehe nach Pirgallen!“


Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/494&oldid=- (Version vom 31.7.2018)