– Zahllose Menschen, die für die Worte ausgesprochener Freidenker nur taube Ohren haben, werden ihn hören, und ihr erster Schritt auf der schiefen Ebene wird dann nicht ihr letzter sein!“
Ich dachte meiner eigenen Erfahrungen und gab ihm Recht. Hatte unser Gespräch sich bisher wesentlich um die Frauenfrage gedreht, so kamen wir heute zum erstenmal auf religiöse Fragen zu sprechen. Ich erzählte ihm von meiner Entwicklung. Er hörte mit sichtlichem Interesse zu und sprach mir dann von der seinen.
„Religiöse Gewissenskämpfe sind mir fremd geblieben,“ begann er. „Bis ich in die Schule kam, wußte ich nichts von Religion. Als meine Mutter mich zu meinem Klassenlehrer brachte und er mich frug, was ich vom lieben Heiland wüßte, gab ich erstaunt zur Antwort, daß ich von dem Land noch nie etwas gehört hätte. Der Schulreligionsunterricht bestand dann eigentlich nur im mechanischen Auswendiglernen, was ich ebenso gedankenlos absolvierte, wie irgend welche Tabellen oder grammatische Regeln. Was dem Gemüt vieler Kinder die Religion bieten mag, das bot mir die Natur; und da ich von klein an schwächlich war und meinen Altersgenossen und ihren Spielen infolgedessen ziemlich fern blieb, unterstützten meine Eltern meine Passionen. Mein Zimmer war immer ein wahres Aquarium, und das Leben der Tiere und der Pflanzen mit all seinen Wundern lernte ich mit steigendem Entzücken zuerst aus eigenen Beobachtungen kennen. Jetzt habe ich nur noch ein paar Vögel und ein Blumenfenster,“ – er lächelte wehmütig, „seit meine Mutter im vorigen Jahre starb und ich bewegungslos bin, würde doch keiner für meinen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 507. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/509&oldid=- (Version vom 31.7.2018)