Der Hof war noch enger und lichtloser als bei uns, und die Treppe war vollkommen finster. Auf mein Klingeln öffnete der Diener. Im Flur konnte ich die Hand nichts vor Augen sehen. Im nächsten Moment aber schloß ich sie geblendet. Aus der Tür, durch die ich ins Zimmer trat, strömte ein Meer von rotgoldenem Licht.
„Willkommen, mein liebes, gnädiges Fräulein!“ hörte ich des Professors weiche Stimme sagen.
Und nun erst sah ich ihn: am Fenster saß er, das dicht von wildem Wein umsponnen, den Blick in lauter Gärten schweifen ließ. Auf die Bücher und Papiere, die den Schreibtisch vor ihm bedeckten, malte die Sonne lauter runde blinkende Silberflecken und streichelte an der Wand gegenüber die vielen, schön aneinandergereihten Bücher. Zwei Vögel mit buntschillernden Flügeln flatterten, durch meinen Eintritt aufgescheucht, durch den Raum und ließen langgezogene Flötentöne hören.
Auf den breiten Lehnstuhl neben dem Schreibtisch deutete einladend die weiße Hand Glyzcinskis, der mir mit seinen Kinderaugen und dem wesenlosen, unter Decken verborgenen Körper wie ein Zauberer inmitten seines Märchenreichs erschien. Flüchtig tauchte mein dunkles Zimmer vor meinem inneren Auge auf, – hatte meine Sehnsucht nicht dieses Märchenreich längst gesucht?
„Wissen Sie, daß ich Sie mit Bestimmtheit erwartet habe?!“ sagte er, „darum gibt es auch heute Kuchen zum Kaffee, wie an einem Festtag!“ Er versuchte von dem Tischchen aus, das der Diener hereingetragen hatte, mich zu bedienen. „Das ist Frauensache!“ lachte ich
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 511. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/513&oldid=- (Version vom 31.7.2018)