mit sich zu reißen, den Ideen der Ethischen Bewegung zu gewinnen. Wir debattierten oft stundenlang und setzten dann noch brieflich unsere Diskussionen fort.
„Wir wollen beide dasselbe,“ sagte er einmal, „und auf diesen ernsten Willen kommt es an.“
„Ist unser Wille der gleiche, und sind unsere Gedanken dieselben, so haben Sie so wenig das Recht wie ich, sich für neuen Wein alter Schläuche zu bedienen!“ antwortete ich.
„Das Christentum – mein Christentum Jesu ist aber nicht der alte Schlauch, den die Kirche gemacht hat, mit der ich ganz und gar nichts zu tun habe,“ beharrte er.
„Ich will überhaupt nur, daß etwas wird,“ schrieb er bald darauf: „Wir wollen die Religion leben; setzen Sie für das Wort: Religion – Ethik, so ist’s mir recht, aber für das Wort: leben sollen Sie mir kein anderes setzen. – Wir müssen das Christentum ernst nehmen; setzen Sie für Christentum – Ethik, so ist’s mir recht, das Ernstnehmen aber lasse ich mir nicht fortstreichen. Wir haben lange genug entwickelt, – ich will nun Entfaltung sehen. Wieder bloß reden, bloß predigen, bloß erziehen, derweilen die Menschen weiter hungern und die Welt aus Laune einzelner in Waffen starrt, – nein! Mein Streben geht darauf hin, Zustände zu schaffen, die verwirklichen, was Sie predigen. Der Staat soll eine große ethische Gesellschaft sein, jede Schule eine in Ihrem Sinne ethische, in meinem Sinne religiöse Gemeinschaft erziehen. Glauben Sie mir: ich marschiere ganz auf realem Boden. Daß auch Fräulein von Kleve – traurig oder lächelnd? – den Kopf schüttelt, tut mir furchtbar weh. Entmutigen aber darf es mich
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/528&oldid=- (Version vom 31.7.2018)