Zunächststehenden sahen mich erwartungsvoll an. Das Herz klopfte mir bis zum Halse herauf – mir wurde heiß und kalt –, ich fühlte, ich mußte sprechen. Es dunkelte mir vor den Augen, die Angst schnürte mir fast die Kehle zu, – wie sollt’ ich die Worte finden, wie reden, wenn all die vielen feindseligen Blicke mir entgegenblitzten?! Und doch: dürft’ ich zum erstenmal, wo die Gelegenheit sich bot, die große Sache zu verteidigen, – meine Sache! –, durfte ich feige schweigen?!
„Herr von Egidy stellte die Lage so dar, als ob es hieße: Hie Christentum – hie Ethik,“ begann ich, die zitternden Hände krampfhaft auf die Stuhllehne vor mir stützend, „während wir alle, deren gleiches Ziel die Wohlfahrt der Menschheit ist, nicht die Verschiedenheiten unserer Anschauungsweisen hervorsuchen, sondern die Einheit unserer Aufgaben betonen sollten …“
„Die Zerstörung der Kirche ist unsere Aufgabe!“ rief eine krächzende Stimme dazwischen. Ich suchte einen Augenblick verwirrt nach dem zerrissenen Faden meiner Rede und fuhr dann fort: „Wir Vertreter der Ethischen Bewegung legen auf das gemeinsame Handeln den größten Wert und meinen, daß es weit richtiger ist, gegen Hunger und Not zu kämpfen, als gegen die Kirche …“
Eine lebhaft gestikulierende Dame, der das Haar in stumpfblonden Strähnen über die Stirne hing, reckte die dürren Hände plötzlich hoch empor und schrie gellend: „Sie verleumdet Egidy, – duldet das nicht, duldet das nicht!“ Egidy machte eine kurze, beruhigende Bewegung und stand dann wieder mit verschränkten Armen, die Blicke starr auf mich gerichtet, unter dem Türrahmen. Ich
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/533&oldid=- (Version vom 31.7.2018)