„Ein gewöhnlicher Mensch würde dies Dasein kaum ertragen, aber er, – wir Gesunden könnten ihn fast um das Glücksgefühl beneiden, das ihm unveränderlich aus den Augen strahlt.“
„Wird er genesen und – leben?“ brachte ich mühsam hervor.
Mit einem prüfenden, langen Blick sah mir der Arzt ins Auge und reichte mir die Hand zum Abschied:
„Genesen, – niemals! Leben?! Glück und Liebe sind Elixire, die schon Sterbende ins Dasein zurückriefen. Verordnen können wir sie leider nicht!“
Glyzcinski wurde von Tag zu Tag frischer und froher. Morgens, wenn ich kam, begrüßte er mich, als wäre ich Jahre fort gewesen, und des Abends, wenn ich ging, zuckten seine Lippen, wie die kleiner Kinder, die weinen wollen. Unsere Tage verliefen in ruhigem Gleichmaß. Der Philosophie, war der Vormittag gewidmet – „in einem Jahr müssen Sie Ihr Doktorexamen machen können,“ hatte Glyzcinski mir versichert, und es war ein förmlicher systematischer Unterricht, den er mir erteilte. Er wollte dabei niemals zugeben, was ich immer deutlicher empfand: daß mir für große Gebiete des Wissens die sprachlichen und – noch mehr – die mathematischen und naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse fehlten. Oft wünschte ich, mich noch auf irgendeine gymnasiale Schulbank setzen zu können, aber dann lachte er mich aus: „Sie kennen das Leben, – das ist mehr wert, als aller Wissenskram; und Sie sollen handeln, – das ist besser, als mathematische Aufgaben lösen und den Plato im Urtext verstehen können.“
Während der Nachmittagstunden beschäftigten wir
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/564&oldid=- (Version vom 31.7.2018)