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aus: wir stritten uns über Nietzsche, und zum erstenmal seit unserer Bekanntschaft verteidigte Glyzcinski seine Ansichten mit offenbarer Heftigkeit. „Wie im Anarchismus die große Gefahr für die Verbreitung des Sozialismus in der Arbeiterklasse zu suchen ist,“ sagte er, „so kann die Ausbreitung der Ideen Nietzsches die Wirksamkeit der Ethischen Bewegung in den oberen Klassen völlig untergraben. Die Ausbildung der Persönlichkeit als Selbstzweck steht zu unserem Ziel – dem größten Glück der größten Mehrheit – in direktem Gegensatz.“

„Verzeihen Sie mir, wenn ich das bestreite,“ antwortete ich schüchtern, aber doch im Augenblick meiner gegenteiligen Ansicht sehr sicher. „Mir scheint nämlich, als ob gerade sie unser Ziel wäre. Höchstes Glück der Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit, – so ähnlich heißt es schon bei Goethe. Und der Sozialismus soll eben die Möglichkeit für alle schaffen, ein Glück sich zu erringen, das heute nur wenige genießen können.“

„Wenn der arme Nietzsche geistig nicht tot wäre,“ lachte Glyzcinski, „so würde ihn diese Ihre Auslegung daran mahnen, zum Weibe nicht ohne Peitsche zu kommen! – Sehen Sie doch um sich: sind seine lautesten Anhänger nicht unsere ärgsten Feinde?“

„Weil sie es sind, die ihn mißverstehen, nicht ich! Sich ausleben, bedeutet doch nichts anderes, als alle Fesseln zerreißen und zersprengen, die uns hindern können, die Glieder im Dienst der Menschheit zu regen!“

„Das, mein liebes Schwesterchen, ist aber kein Originalgedanke Nietzsches, sondern eine Forderung, die schon

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 568. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/570&oldid=- (Version vom 31.7.2018)