Szene, die folgte, war schlimmer als je vorher. „Solange du meinen Namen trägst, niemals – niemals!“ Dabei blieb der Vater. Ich lief in die Nettelbeckstraße und brach, aufschluchzend, neben dem Stuhl des Freundes zusammen. Minutenlang vermochte ich nicht zu sprechen und fühlte nur, wie der schmalen Hand, die mir leise über die Stirne strich, wohltätige Ruhe entströmte. Und dann erzählte ich –
„‚Solange du meinen Namen trägst‘ – das sagte Ihr Vater?“ Glyzcinski wandte den Kopf und sah zum Fenster hinaus, wo die roten und gelben Blätter im Herbststurm tanzten. Es dunkelte schon, – eine Mahnung zum Aufbruch.
„Ich fürchte mich so –“ murmelte ich mit neu hervorstürzenden Tränen. Und aus dem Zwielicht und der Stille hörte ich seine leise Stimme sagen: „Möchtest du bei mir bleiben, mein Schwesterchen?“ – „Immer – immer –“ stöhnte ich und preßte meine Lippen, ehe ers hindern konnte, auf die Hand, die weiß und unirdisch im Dämmer leuchtete.
Am frühen Morgen des nächsten Tages erhielt ich diesen Brief:
„Mein liebes, gnädiges Fräulein!
Schon vor Monaten habe ich mir oft gedacht: wenn Sie eine Anzahl Jahre älter geworden wären, ohne das Glück gefunden zu haben, das Sie in so reichem Maße verdienen, – wenn Sie sich mit dem Gedanken, auf Liebe und Glück verzichten zu müssen, vertraut gemacht hätten, dann wollte ich fragen: Liebe Freundin, wollen wir zueinander ziehen, Mann und Frau werden, dabei
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 574. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/576&oldid=- (Version vom 31.7.2018)