Parteien auseinanderriß und wie Scheidewasser die Geister voneinander trennte. In atemloser Spannung sah ich zu. Auch Egidy, der tapfere Träumer, der „Edel-Anarchist“, der keine Partei anerkannte und doch, getrieben von der unbestechlichen Wahrhaftigkeit seines Wesens, die Wahlparole der Sozialdemokratie nur in seine Sprache übersetzte, stand auf der Wahlstatt.
„Was sagen Sie dazu, daß unser gemeinsamer Freund sich zum Reichstag aufgestellt hat?“ schrieb mir Wilhelm von Polenz. „Überrascht er nicht immer wieder durch seinen Mut und die Konsequenz seiner Entwicklung? Ich komme dieser Tage nach Berlin und möchte Sie gern in eine seiner Wahlversammlungen begleiten.“
Wenigen Ereignissen stand ich erwartungsvoller gegenüber als diesem ersten Besuch einer Volksversammlung!
Es war ein halbdunkler Raum, niedrig und verräuchert, in den wir eintraten. Er füllte sich nur langsam. Zuerst kam der Kreis der engeren Gemeinde Egidys, die seit seinem entschiedenen Eintritt in das praktisch-politische Leben sehr zusammengeschmolzen war; dann erschienen die vielen, die überall dabei sein müssen: sensationslüsterne Weiber, kühl-neugierige Skribenten; ganz nach vorn drängten sich die russischen Studenten und Studentinnen, die stets mit sicherem Instinkt die Luft geistiger Revolutionen wittern, und schließlich strömte es herein von Männern und Frauen, von denen ich nicht recht wußte, wohin sie gehörten. „Arbeiter!“ sagte Polenz. Arbeiter?! Diese ernsten, ruhigen Menschen, deren bürgerliche Kleidung in nichts an den Kittel und das Schurzfell erinnerte?! Sie waren die stillsten, als
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/595&oldid=- (Version vom 31.7.2018)