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Professor –“ Mit ausgestreckter Hand kam sie mir entgegen.

Ein freundlicher Raum wars, in den ich eintrat: auf den beiden Betten lagen rotgewürfelt und glattgestrichen die Kissen, vor dem alten braunen Sofa mit dem sorgfältig gestickten Bezug stand auf drei geschwungenen Beinen ein runder Tisch, auf dem nicht ein Stäubchen sich zeigte. Nur um die Maschine am Fenster bauschte sich weiße Leinwand, sonst herrschte peinlichste Ordnung überall. Als einziger Schmuck prangten die Bilder von Marx und Lassalle an den Wänden.

Mit Fragen begann ich das Gespräch; Vater und Tochter ergänzten einander im Erzählen: wie er einst, als kleiner Schuhmachermeister, lange und hartnäckig den Kampf gegen die übermächtige Fabrik geführt habe, wie sie – früh mutterlos – schon als Schulkind mit verdienen mußte und der kleine Haushalt überdies auf sie allein angewiesen war.

„Damals haderte ich mit dem Geschick,“ sagte der Alte, „an den lieben Gott zu glauben hatte ich längst aufgehört, und oft wußt ich nicht, sollt ich den Fabrikanten erschlagen, oder lieber mit dem Kinde zusammen dem elenden Leben ein Ende machen.“

„In der Werkstatt, wo ich mit immer müden Augen und einem Stumpfsinn, der mir bald alles gleichgültig machte, Knopflöcher nähte, – Tag aus, Tag ein, vom grauen Morgen bis tief in die Nacht immer bloß Knopflöcher! –“ fuhr die Tochter fort „lernte ich einen Bügler kennen, der nahm mich zuerst in Versammlungen mit und steckte mir heimlich Zeitungen und Flugblätter zu. Wie mir da die Augen aufgingen!“

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/602&oldid=- (Version vom 31.7.2018)