mir vor, wenn ich nähe, und wenn wir Feierabend machen, brauch’ ich ihn wieder. Er hat eine bessere Schulbildung als ich und erklärt mir, was ich in unseren Büchern nicht verstehe.“ Sie sah nach der Uhr: „Seien Sie nicht böse – aber jetzt muß ich fort, – wir tragen heut in unserem Bezirk Wahlflugblätter aus –“
Wir gingen zusammen. Unterwegs erzählte sie mir von ihrem Frauenverein, von den polizeilichen Verfolgungen, denen er ausgesetzt wäre. „Sie sollten mal hinkommen, Frau Professor!“
„Mit Freuden, wenn ich darf! Aber – bitte – nennen Sie mich nicht ‚Frau Professor‘, Frauentitel sind mir zuwider, wenn sie nicht selbst erworben sind.“
Sie blinzelte mich von der Seite an: „Ja – wie soll ich Sie sonst anreden – ich verschnappe mich am Ende noch mal und sage: Genossin!“
Sie hatte ihr Ziel erreicht. Vor einer kleinen Kneipe strömten die Menschen zusammen, Frauen und Männer, junge und alte Leute. Sie grüßten einander, wie lauter Freunde. Still trat ich beiseite. Wie sie alle fröhlich waren und siegesbewußt! Ein paar mißtrauische Blicke streiften mich, mit spöttischem Augenzwinkern gingen Arm in Arm ein paar Mädchen an mir vorüber. Und mit jähem Schmerzgefühl empfand ich: daß ich hier eine Fremde war.
Acht Tage später begleitete ich Georg zum Wahllokal. Während er im Rollstuhl vor der Tür stand, streckten sich ihm von allen Seiten die Hände mit den Wahlzetteln entgegen. „Wir wählen den Sozi,“ sagte er laut und lustig, „meine Frau und ich!“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/604&oldid=- (Version vom 31.7.2018)