Woge, und ich empfand die dunkle Menge vor mir wie Ton, der sich nach meinem Willen formte. Achtlos zerknitterte ich mein Manuskript zwischen den Händen. Ich bedurfte seiner nicht. Vor dem Rednerpult fielen mir kräftigere Worte und stärkere Beweisführungen ein als am Schreibtisch. Gestern erst hatte Martha Bartels mir von der polizeilichen Auflösung eines Arbeiterinnenvereins berichtet. Gab es ein besseres Beispiel als dies, um die Rechtlosigkeit der Frauen zu beleuchten? „Die Rücksicht auf die Weiblichkeit gebietet solch ein Vorgehen, sagen die Männer,“ rief ich aus, „aber die Rücksicht auf dieselbe Weiblichkeit hat noch keinen Mann verhindert, Frauen in die Steinbrüche und Bergwerke zu schicken, und werdende Mütter in die Giftluft der Fabrik!“ Frenetischer Beifall von den Galerien herunter ließ mich minutenlang nicht zu Worte kommen. Der Polizeileutnant stenographierte, – entgeistert sah Frau Vanselow mich an: „Das ist gegen die Abmachung!“ flüsterte sie erregt. Ich lächelte.
„Und nun frage ich euch, meine Schwestern, habt ihr wirklich nichts zu tun für euer Geschlecht? – Denkt an die jüngste Vergangenheit, wo der Vertreter Sr. Majestät des Kaisers, der Kanzler Leist, Frauen schändete, aber dessen ungeachtet für einen ‚tüchtigen und pflichttreuen Beamten‘ erklärt wurde, – und dann wagt es noch, zu sagen: wir haben keine Bürgerpflicht! … Von Ort zu Ort will ich wandern und jene heilsame Unzufriedenheit, die die Mutter aller Reformen ist, in die Herzen der Frauen pflanzen! …“ Der Polizeileutnant wurde rot vor Eifer, ich hörte das Kritzeln seines Stifts durch
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 621. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/623&oldid=- (Version vom 31.7.2018)