Einmal nahm mich der Onkel beiseite, und ich erwartete schon ein wohlgemeinte politische Belehrung, als er von Egidy zu sprechen begann. „Er ist ein Phantast, aber trotz alledem ein Edelmann und dein Freund,“ sagte er, „da gehört sich’s, daß du ihn vor Schaden bewahrst. Er hat sich droben bei uns mit einem meiner Nachbarn, einem notorischen Schwindler – Wohlfahrt heißt der Kerl zum Überfluß! –, wie ich höre, das Näheren eingelassen. Warne ihn, ehe es zu spät ist.“ Ich ließ mir die nötigen Details geben und bat Egidy um seinen Besuch.
Wir hatten einander ein paar Monate lang nicht gesehen. Er aber sah um Jahre gealtert aus. Kaum hatte ich den Mut, diesem müden Gesicht gegenüber zu sagen, was ich wußte. Er starrte mich an, die Finger ineinandergekrampft, die Augen weit aufgerissen. Und plötzlich sank sein Kopf auf die gefalteten Hände, und seine breiten Schultern bebten, von lautlosem Schluchzen erschüttert. Fassungslos stand ich vor ihm: er, der dem Spott und Haß einer ganzen Welt getrotzt hatte, dessen sieghafter Glaube an die Menschen ihn unüberwindlich zu machen schien, – er saß hier vor mir, zusammengebrochen, als wäre ein Fels ihm auf den starken Nacken gestürzt, – und weinte!
„Meine Kinder – meine armen Kinder!“ stieß er abgebrochen hervor – „alles habe ich diesem Menschen geopfert, – mein Letztes!“
Georg kam nach Hause. Egidy raffte sich auf, um ihn zu begrüßen, aber die Kniee wankten ihm. Und dann war’s, als müßte er sein Herz ausschütten, aussprechen, was er vielleicht vor sich selbst noch verhehlt hatte: Wie seine Hoffnungen ihn betrogen, die Scharen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/629&oldid=- (Version vom 31.7.2018)