Reiz verleiht. Mit ihrer Reife erstarren sie zu Schwertern, die der Kämpferarme bedürfen, während das Seherauge des Künstlers schon sehnsüchtig nach neu auftauchenden Lichtern im fernen Dunkel Ausschau hält. Aber was Notwendigkeit ist, erschien mir wie Treulosigkeit und Schwäche, und der Ich-Kultus, der an Stelle des Kultus der Menschheit trat, wie ein frevelhafter Rückschritt.
Gegen eine Welt von Widersachern hatten die Ibsen und Nietzsche die Freiheit der Persönlichkeit verkündet, in jahrelangem, schmerzvollem Ringen hatten wir sie erobert; ein Heiligtum war sie uns, dessen ewige Lampe sich von unserem Herzblut tränkte. Und nun kamen die vielen lärmenden Leute und griffen nach ihr ohne Ehrfurcht, und nichts als ein neues Spielzeug war sie ihnen. Dem gebildeten Pöbel galt jeder als ein Freier, der schrankenlos seinen Begierden folgte. Die entgötterte Menschheit suchte nach Götzen, und jeder fand eine anbetende Gemeinde, der alte Werte mit Füßen trat.
„Die sexuelle Freiheit ist doch nicht die Freiheit an sich!“ sagte ich einmal voller Empörung zu Polenz, der mir Hartlebens „Hanna Jagert“ gebracht hatte. „Gewiß gibt es Frauen mit denselben sinnlichen Leidenschaften, wie Männer sie haben, aber in ihnen den ‚großen freien Weibtypus der Zukunft‘ zu suchen, ist ebenso frevelhaft, als wenn man den modernen Lebemann für das Ideal der Männlichkeit erklären würde.“
„Sie kennen eben unsere jungen Dichter nicht, die zumeist aus dem engsten Kleinbürgertum stammen und von da aus direkt der Großstadtbohême in die Arme laufen. Eine andere Welt ist ihnen fast allen fremd und bleibt ihnen fast immer verschlossen. Gerade Sie
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/637&oldid=- (Version vom 31.7.2018)