„Daß ich das noch erlebe – Herr Professor – das noch erlebe,“ wiederholte er immer wieder, mit dicken Freudentränen in den kleinen, zwinkernden Äuglein.
Brausende Hochrufe erschütterten die Luft. – Alles erhob sich – schwenkte die Hüte und wehte mit den Taschentüchern – auf die Tische und auf die Schultern wurden die Kinder gehoben, so daß ihre Köpfchen wie Blumen aus dichtem Wiesengrund über die Massen emporragten. Und durch den breiten Mittelgang, an dem sich rechts und links, eine undurchdringliche Mauer, die Menge staute, kamen sie alle, die alten Kämpfer, deren Namen ein blutiger Schrecken für die einen, ein Symbol künftiger Glückseligkeit für die anderen war.
Mein Blick blieb nur auf den vier Voranschreitenden haften, die ich um mich herum immer wieder flüsternd nennen hörte: Liebknecht – Bebel – Auer – Engels. Groß war der eine, mit grauem Vollbart, hoher Stirn, geistvoll sprühenden Augen, einen feinen Zug von Sarkasmus um den Mund, klein der andere, mit widerspenstiger voller Haarsträhne, die ihm immer wieder nach vorne fiel, so daß sein Blick sich noch mehr verschleierte, – jener merkwürdige Blick, wie ihn nur Dichter und Träumer haben. Einen breiten, hellen Germanenkopf trug der Dritte stolz auf den starken Schultern, ein paar Augen, die gewiß kampflustig zu blitzen verstanden wie die alter Häuptlinge, sahen über die Menge hinweg. Vorne aber ging der alte gefeierte Gast mit einem Lächeln so voll gerührter Güte und freudiger Menschenliebe, als wären das alles seine Kinder, die ihm entgegenjauchzten.
Gesang, Musik, Begrüßungsreden wechselten miteinander
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/644&oldid=- (Version vom 31.7.2018)