Dann ging ich festen Schrittes weiter und warf ohne Besinnen meine Briefe in den blauen Kasten an der Post. Hörte ich nicht einen Schritt? – Es war wohl nur das Klopfen und Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren.
Auf den Stock gestützt, schritt ich langsam bergauf. Wie doch die Bäume gewachsen waren auf der Schonung! Früher reiften hier in der Sonne die süßesten roten Beeren. Und weiter droben war ein neuer Schlag, – kleinwinzige Tannenpflänzchen guckten schon neugierig zwischen Grasbüscheln und alten Wurzeln hervor.
Über die Steinhalde lief ich sonst, – heute wurde mir das Atmen recht schwer!
Nun gings durch den Wald über Sturzbäche, höher und höher, bis der Weg nur als schmales Band an der schroffen Felsenwand des Waxensteins entlang führt. Tief unten braust und schäumt der Höllentalbach.
O, ich kenne noch keinen Schwindel, – findet meine Sohle nur einen Fuß breit Erde, so stehe ich sicher!
Wie frei weht die Luft hier oben, – wie leicht läßt es sich atmen! Über himmelhohem Abgrund schwingt sich die eiserne Brücke von Berg zu Berg, und jenseits führen Leitern wieder empor. Auf weichem Moos unter einer Tanne, die ihre Wurzeln keck um einen Felsvorsprung klammert, halte ich Rast. Im Halbkreis schieben sich hier die Berge aneinander, ein Zirkus, von Riesen gebaut, bestimmt für die Spiele unsterblicher Götter.
Da hör’ ich Schritte, – Nagelschuhe auf Felsstufen, – ein Wilddieb vielleicht, oder ein Bergführer, der über die Knappenhäuser zur Hochalm will. Ich stehe auf – die Hand fest um den Stock –, hier gibt
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/657&oldid=- (Version vom 31.7.2018)