und er konnte gar nicht glauben, daß sie die Erbin der fünf großen Fabriksgebäude sei.
„Wir kommen zu Ihnen,“ begann Koroljow, „um Sie zu kurieren. Guten Tag.“
Er nannte seinen Namen und drückte ihr die Hand – eine große, unschöne, kalte Hand. Sie setzte sich auf und ließ sich, offenbar schon seit langem an ärztliche Besuche gewöhnt und ohne sich zu genieren, daß ihr Hals und ihre Brust entblößt waren, behorchen und beklopfen.
„Ich habe Herzklopfen,“ sagte sie. „Die ganze Nacht war so schrecklich… ich bin beinahe vor Schreck gestorben! Geben Sie mir irgend etwas.“
„Gewiß, gewiß! Beruhigen Sie sich nur.“
Koroljow untersuchte sie und zuckte die Achseln.
„Das Herz arbeitet tadellos,“ sagte er, „alles ist in bester Ordnung. Wahrscheinlich sind die Nerven etwas überspannt, aber das kommt so häufig vor. Der Anfall ist anscheinend zu Ende. Versuchen Sie mal einzuschlafen.“
In diesem Augenblick brachte man eine Lampe herein. Die Kranke kniff die Augen zusammen, griff sich plötzlich an den Kopf und begann zu schluchzen. Und der Eindruck eines unglücklichen, unschönen Wesens war plötzlich verschwunden, und Koroljow sah nicht mehr die kleinen Augen und die roh entwickelte untere Gesichtshälfte; er sah nur einen sanften, gequälten Ausdruck, der so verständig und rührend war, und sie erschien ihm auf einmal so schlank, frauenhaft und einfach, daß er das Bedürfnis fühlte, sie nicht mit einer Arznei oder ärztlichem Rat, sondern mit einfachen freundlichen Worten zu beruhigen. Die Alte umschlang ihren Kopf und drückte ihn an sich. Wieviel Verzweiflung und Gram drückte das Gesicht der Mutter aus! Sie hatte ja die Tochter großgezogen, hatte
Anton Pawlowitsch Tschechow: Von Frauen und Kindern. Musarion, München 1920, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Von_Frauen_und_Kindern_(Tschechow).djvu/200&oldid=- (Version vom 31.7.2018)