Das hatte sich nämlich auf dem großen Fest im Anitschkowpalais zugetragen, wo die Hoffeste stattfanden, währenddem das kürzlich abgebrannte Winterpalais in größter Hast wieder hergestellt wurde. Um zwölf Uhr mittags hatte man zu tanzen begonnen, und man tanzte den Nachmittag und Abend, man tanzte die ganze Nacht. Und als in den Frühstunden des nächsten Morgens der Kaiser Miene machte, das Fest zu schließen, bat die Kaiserin, es noch länger auszudehnen. Und weiter war getanzt worden, daß die vielen Füßchen in den seidenen Kreuzbandschuhchen brannten. Den Schluß bildeten die Figuren des Potpourris. Die Damen hatten sich dazu rings um den Saal auf Sesseln niedergelassen und, der Aufforderung und dem Beispiel des Kaisers folgend, mußte sich neben einer jeden ihr Kavalier aus den Fußboden setzen. Dann schassierten die tanzenden Paare vorüber. Dem Kennerblick des für Frauenschönheit empfänglichen Monarchen war Dorothee hierbei durch ihre Anmut aufgefallen, und er hatte sie mit einer Ansprache ausgezeichnet. Hochaufgerichtet vor ihr stehend, mit dem etwas herrischen Ausdruck der großen Augen, der geraden länglichen Nase und den schöngeschnittenen Lippen, sagte er: „Ich freue mich, so eine scharmante Tochter aus dem Lande meiner braven Ostseeritter hier zu sehen.“
Und hatte Dorothee schon vorher gefallen, so gefiel sie nun doppelt – denn auch in Rußland verlieh Allerhöchste Huld der Schönheit die endgültige Weihe.
„Une folle journée“ war das Fest im Anitschkowpalais genannt worden, Dorothee aber wollte es scheinen,
Elisabeth von Heyking: Zwei Erzählungen. Philipp Reclam jun., Leipzig [1918], Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwei_Erz%C3%A4hlungen_Heyking_Elisabeth_von.djvu/93&oldid=- (Version vom 31.7.2018)