Ich bog eben in die stille breite Mühlenstraße ein und freute mich an dem Spiel, das der Mond mit dem Michaelisturm trieb; wie er behend die zwischen den Pfeilern schwebende Wendeltreppe auf- und abkletterte und aus den obersten Dachluken herausschien, als sei er beim Türmer zu Besuch gewesen.
Da trat dicht vor mir ein Mann aus einem Hause, eine untersetzte, kräftige Gestalt, die durch ihre unsteten Bewegungen meine Blicke auf sich zog. Er hatte den kleinen, schwarzen Hut im Nacken sitzen, und den Rock nicht zugeknöpft, der ihm mit seinen langen Schößen fast bis auf die Knöchel reichte. Ich hörte ihn eben spöttisch auflachen und sagen:
„Na du, ich finde, wir treffen uns aber kolossal oft!“
Die Person, an die er diese Worte richtete, schien ihm entgegengekommen zu sein und hing nun an seinem Arm. Es war ein Mädchen in dunklem Hut und Mantel, doch sah sie aus, als ob sie diesen Putz nicht täglich trage. Sie hatte zu ihrer mittelgroßen, hageren Gestalt eine werkwürdig kleine, ängstliche, ganz von innen herauskommende Stimme, mit der sie jetzt leise erwiderte:
„Das finde ich nicht; ist es so oft?“
Er (in gezwungenem, witzelndem Ton): „O, ich will nicht sagen, daß ich mich darüber freue!“
Ilse Frapan-Akunian: Zwischen Elbe und Alster. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin, Leipzig 1908, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwischen_Elbe_und_Alster_Frapan_Ilse.djvu/096&oldid=- (Version vom 31.7.2018)