Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/148

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auch die Gehirn-Erschütterung nicht lebensgefährlich war, jedoch erklärte er, daß die Eisumschläge Tag und Nacht fortgesetzt werden müßten, obwohl der Aderlaß durch die enorme Blutung überflüssig geworden war. Zugleich hatte er jede Aufregung strengstens verboten, und Herr v. T. blieb bei seinem ersten Besuche aus Rücksicht dieser Vorschrift nur wenige Minuten an meinem Lager; aber doch bemerkte ich, wie er nur mit Mühe seine Fassung behielt und sich dann rasch entfernte. Sein Benehmen in diesen Tagen der Gefahr konnte meine Zuneigung nur vermehren, und das daraus entstehende Gefühl des innerlichsten Behagens förderte meine Gesundung in dem Grade, daß die Aerzte überrascht waren. Als sie mir Bewegung gestatteten, fuhr er mich selbst spazieren, bei weiterer Erstarkung ritten wir in der schönen Umgebung stundenlang umher. Diese Erholungen trugen das Meiste zu meiner Wiederherstellung bei. Wenn ich bisweilen so neben ihm sinnend ritt und sein Schattenbild betrachtete, überdrang mich das Bewußtsein sonderbar, daß dieser gealterte Mann, der jüngst noch als ein Symbol der Schwäche vor mir lag, mich mit aller Gluth des Jünglings liebte. Es grenzte in diesem Gefühle Erhabenheit und Komik so nahe an einander, daß die Scheidelinie kaum zu finden war; es kam nur darauf an, nach welcher Seite ich hinneigte, so konnte ich in Liebesjubel oder Hohnlachen ausbrechen. Ich fühlte zwei Geister in mir ringen, der Liebe und des Spottes, jener stand vor meinem inneren Auge in strahlender Rüstung, mit himmlischem Angesicht, dieser als häßliche Fratze in riesiger Gnomengestalt. Was ist Jugend, rief ich innerlich, was ist Alter? Ist dieser Leib des Staubes der Maßstab, mit dem das Ewige und Göttliche in uns, das allein der geistigen Liebe fähig ist, gemessen werden muß? Wir sprechen immer von Unsterblichkeit, und kleben doch nur an dieser vergänglichen Hülle des Geistes, die vielleicht in nächster Stunde schon Würmerspeise ist. Sollte sich das Recht, zu lieben und geliebt zu werden, auf die Spanne Zeit beschränken, innerhalb welcher diese Blume blühet und welkt? Dann wäre sie nichts als die Brunst des Thieres, ein elender Sinnenrausch, der mit dem Ausschlafen des Betrunkenen in Schauder und Ekel erwacht. Wie, die wollüstigen Prätensionen eines flachshaarigen Knaben mit dem Flaum um den kindisch schwatzenden Mund sollten das Höchste dieser allmächtigen Leidenschaft sein? Die Faseleien eines Unreifen, der das Ungeheure des Daseins kaum ahnet, sollten das Schönste sein, was dieser unergründliche Vulkan