Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/249

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erkohr, weil mir die Protection der Marquise von S. zur Seite stand, und ich folgte ihnen bald nach R…, wo sie seßhaft waren. Die R.’s verdankten ihr Vermögen dem Fabrikbetriebe ihrer Eltern, worin gewiß nichts Erniedrigendes liegt, aber leider machten sie die lächerlichsten Prätensionen, die nur jemals Emporkömmlinge zur Schau trugen. Da ihnen die Verbindung mit den höheren Ständen abging, welche ihr Dünkel ihnen unentbehrlich erscheinen ließ, so boten sie alles auf, um dieses Ziel ihrer Wünsche zu erreichen, zunächst häufige und kostspielige Gastmäler, welche ihnen natürlich eine Menge sogenannter Freunde zuführten. Leider wurde die Erziehung der Kinder ganz im Geiste der Eltern betrieben, und es war mir unmöglich, die moralischen Auswüchse, welche in dieser Familie als so viele Zierden galten, an meinen Zöglingen zu vertilgen, wenn ich mich nicht den gröbsten Demüthigungen aussetzen wollte. Diese erfolgten nämlich sofort vor den Kindern und Gästen, wenn ich es nur wagte, die Unarten jener zu rügen; allein ich kehrte mich so wenig als möglich an diese Chicanen, sondern betrieb mein Amt mit Gewissenhaftigkeit und als vor Gott verantwortlich. Ich ermahnte, untersuchte und strafte, und ging trotz alles Widerstandes in allem auf den Grund; den Mechanismus des englischen Lehrsystems, nach welchem die Kinder einige Sätze Sprachlehre, Geographie, Geschichte u. s. w. memoriren müssen, ohne zusammenhängende und klare Begriffe dadurch zu erlangen, diesen legte ich gänzlich bei Seite. Statt dessen hielt ich Vorlesungen und Erklärungen, wobei sie mir den Kern derselben nicht nur wiederholen, sondern auch niederschreiben mußten. Um ihrem frivolen Gedankenlauf Einhalt zu thun, machte ich auf unseren Spaziergängen unsere Studien oder die Wunder der Natur zum Gegenstand unserer Unterhaltungen. Obgleich meine Schülerinnen Sophie, Mathilde und Auguste schon sechszehn, funfzehn und vierzehn Jahre alt waren, so hatten sie doch gar keinen Religions-Unterricht genossen, ihre religiösen Begriffe beschränkten sich auf die kalten und schwülstigen Predigten, welche sie des Sonntags von dem dortigen Rector, einem aufgeblasenen Narren der Hochkirche, abhaspeln hörten. Johann, ein Knabe von 12 Jahren, machte mir den meisten Kummer, denn er war das gelungenste Conterfei seines Vaters, dessen Eigenschaften mehr dem Thierreiche als dem Menschenthume angehörten. Ich sah nur zu bald, daß ich einen Mißgriff gethan hatte, aber ich mußte das vor der Hand Unabänderliche mit Geduld tragen.