Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/250

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Schon in den ersten Wochen meiner Anwesenheit in dieser Familie kamen Mistreß R.’s Brüder, Cor und Julius, zu uns auf Besuch, und ich hatte bald das Leidwesen, zu bemerken, daß beide in Aufmerksamkeiten gegen mich wetteiferten. Neigt nun mein Temperament von Natur zur Kälte hin, so hatte das Leben die Zerstörung aller jugendlichen Empfänglichkeit vollendet, so daß nichts meinem Herzen entfernter lag, als der Gedanke an Liebe. Allerdings trug ich den Zustand meines Innern nicht zur Schau, und die Elasticität meines Geistes wie meine Energie ließen mich wahrscheinlich als das glücklichste Geschöpf erscheinen, aber in meinem Herzen war es öde und leer wie in einer Gruft.

War ich mit meinen Zöglingen im Garten, so gesellten sich Cor und Julius zu uns, und so weit war dies ganz natürlich; aber während sie mit ihren Nichten spielten, suchte jeder meine Aufmerksamkeit zu erregen und mir zu beweisen, daß ich der Gegenstand seiner Gedanken war. Jeder meiner Bewegungen folgten sie mit ihren Blicken und beobachteten mich mit einer Intensität, die mir fast schmerzlich war. Noch auffallender war ihr Betragen bei Tische, hier beobachteten sie sowohl sich gegenseitig wie mich mit einer wahrhaft komischen Wachsamkeit und Spannung, der ich mich auf keine Weise entziehen konnte. Ich erwiederte ihre Artigkeiten mit Höflichkeit und Ernst, indessen war es schwer, die Mittelstraße zwischen Gleichgiltigkeit und Unhöflichkeit zu beobachten, da man so leicht mißfällt und sich Feindschaft zuzieht, was einer Gouvernante sehr nachtheilig ist. Höchst störend waren sowohl für mich wie für meine Zöglinge die häufigen Besuche beider Brüder im Schulzimmer, bei welchen Gelegenheiten die Kinder sich immer etwas emancipirten. Cor, der ältere, war von mittler Statur und in jeder Beziehung der minder Begabte, auch hatte sein Betragen etwas schüchternes und unbeholfenes, was an einem Manne stets mißfällt. Julius hingegen war hoch und schön gewachsen, sein Gesicht von seltener Regelmäßigkeit, seine Formen waren die eines fein gebildeten Weltmannes. War er im Zimmer, so nahm er gewöhnlich den kleinen Inseparable der Mädchen aus seinem Gebauer, küßte ihn lange und zärtlich, indem er seine Augen mit leidenschaftlichem Ausdrucke auf mich heftete und setzte mich durch diese und tausend andere verliebte Tändeleien meinen Zöglingen gegenüber in peinliche Verlegenheit. Ich ließ mich jedoch nicht zerstreuen, sondern entledigte mich meiner Pflichten mit aufrichtigem Eifer trotz aller mich umgebenden Schwierigkeiten.