Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/52

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Sechstes Kapitel.




Als Frl. Ch. abging, versprach sie, mir eine Stelle zu verschaffen und mir deshalb zu schreiben; ich selbst war nicht im Stande, mir ein anderes Unterkommen zu verschaffen, denn neben meiner systematischen Absonderung von der Außenwelt und der daraus hervorgehenden vollständigen Unbekanntschaft gebrauchte die Lady auch noch den Kunstgriff, mir stets einen Theil meines Gehaltes innezubehalten. Da ich nun den empfangenen nach Deutschland schickte und für meine Bedürfnisse verwandte, so war ich immer ohne Geld und an meine Hölle gefesselt. Miß Ch. wußte in ähnlicher Lage Rath. Mit der Lady hatte sie schreckliche Auftritte, weil diese sie ebenfalls nicht bezahlen wollte und förmlich durch Hunger zwang, das Haus zu verlassen; sie schrieb daher an Doctor Charles und drohete ihm, sein Verhältniß zur Lady Georgiana seiner Gattin zu verrathen, wenn sie ihr Geld nicht bekomme. Das wirkte, denn sie erhielt sofort ihre Forderung.

Im nächsten Frühjahre schickte uns Milady nach Bognor an der Küste von Sussex in das Seebad. Bognor ist ein nettes, aber ziemlich einsames Städtchen mit einer herrlichen Umgebung, wo ich mich recht behaglich würde gefühlt haben, hätte mir die Lady dies Mal nicht eine unsittliche und rohe Collegin Namens N. gegeben, die sich bei mir durch eine scandalöse Biographie einführte. Nun kam zum Ueberflusse auch noch die Lady mit ihrem Liebhaber an und ergab sich einem so zügellosen Leben, daß ganz Bognor von ihren Schäferscenen am Meeresstrande sprach. Da sie auch hier nicht zahlte, so kamen die hiesigen Gläubiger, deren sich in sechs Monaten eine bedeutende Anzahl gesammelt hatte, nach London, umringten das Haus und verlangten lärmend und steinwerfend Einlaß. Lady saß derweil wie ein guter Feldherr in aller Ruhe und ertheilte ihren beiden Adjutanten, Frau M. und dem Bedienten, ihre Befehle. Diese Belagerung dauerte einige Tage, während welcher das Thor nicht ein einziges Mal geöffnet wurde, und die Lady hätte sich schließlich ergeben müssen, wenn nicht ein Ausgang durch die Stallgebäude hinter dem Hause eine Zufuhr von Lebensmitteln möglich gemacht hätte. Ungeachtet aber Milady hinreichende Mittel besaß, ließ sie uns dennoch bittern Mangel leiden, und ich beschloß nun,