An der Seite des praktischen Arztes von Ihlienworth schreitet ein Kollege, der praktischer Arzt in Leipzig ist. Er scheint ein schneidiger Mann zu sein, wie sein kurzes Gutachten andeutet. Auf die Frage: „ Giebt es Juden, welche den Blutmord oder Ritualmord begehen?“ antwortet er einfach: Ja. „Womit begründen Sie Ihre Ansicht? Aus den Vorgängen bei den Morden in Xanten, Polna, Konitz u. s. w. Welche Beweggründe seitens der Juden nehmen Sie an? Aus religiösem Aberglauben. Was halten Sie für das geeignetste Mittel zur Ausrottung dieser entsetzlichen Verbrechen? Beschränkung der Juden aus einen bestimmten Bezirk des Deutschen Reiches, wo sie allein wohnen, Grundbesitz erwerben und alle staatsbürgerlichen Rechte ausüben dürfen.“ – Das ist das ganze Gutachten eines hervorragenden Mannes der Wissenschaft und des praktischen Lebens, der aber noch so viel Scham besitzt, daß er seinen Namen verborgen hält. Die Staatsbürger-Zeitung dagegen schämt sich nicht, ein solches Machwerk ihren Lesern als ein wissenschaftliches Gutachten darzubieten, unbekümmert darum, daß solche Gutachten ein sprechender Beweis für die Thatsache sind, daß der Glaube an den jüdischen Ritualmord wissenschaftlich sich nicht mehr verteidigen läßt, und daß sie darum in der That Leichenreden sind, die dem jüdischen Ritualmord gehalten werden.
Dem Arzte des Leibes folgt wieder ein Seelenarzt, Pastor D. Baltzer in Lunow, im fünfundvierzigsten Amtsjahr, der ehrwürdige Vater des Pastors Baltzer zu Groß-Lerzkow, der den Zug der Leidtragenden, wie wir schon gesehen haben, eröffnet hat. Der Vater stimmt der Erklärung seines Sohnes in betreff des Blutmordes bei, fügt aber hinzu, es sei nicht daran zu denken, daß im Alten Testament oder im Talmud ein ritueller Mord gelehrt werde. Damit ist gewiß den Antisemiten ein Stein vom Herzen weggewälzt. Denn es ist jetzt nicht mehr nötig, die schweren Kosten für eine Übersetzung der zwölf Foliobände des Talmud aufzubringen, wie der praktische Arzt Dr. Stille sie verlangt hatte. Wie es christliche Mörder giebt, sagt der H. Pastor, giebt es auch jüdische Mörder, und daß die Juden morden, um Blut zu gewinnen, ist durch die Fälle von Xanten, Tizsa-Eszlar, Konitz nachgewiesen. Was den ersten Teil dieser Behauptung betrifft, wird die Wahrheit desselben niemand leugnen, was aber ihren zweiten Teil anlangt, so hat die medizinische Fakultät der Universität Bonn
Friedrich Frank: Nachträge zu „Der Ritualmord vor den Gerichtshöfen der Wahrheit und Gerechtigkeit“. Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz Buch- und Kunstdruckerei A.-G. München-Regensburg, Regensburg 1902, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Ritualmord_vor_den_Gerichtsh%C3%B6fen_(1902).djvu/57&oldid=- (Version vom 31.7.2018)